Bericht über die Stadtteilgruppe Neukölln // Info BUG Nr. 1 vom 4.3.1974

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Dieser Artikel erschien im: Info Berliner Undogmatischer Gruppen Info BUG Nr. 1 vom 4.3.1974

Wir sind eine Gruppe von ca. 20 Genossen und Genossinnen, zumeist Studenten, die in Neukölln so etwas wie Stadtteilarbeit machen ( wollen). Die Stadtteilgruppe existiert seit über 3 Jahren mit allerdings etwas schwankender Mitgliederzahl, so dass kaum ein Genosse die Anfänge der Arbeit miterlebt hat. Die personelle Fluktuation war so stark, dass man getrost davon sprechen kann, dass im Lauf der Jahre mehrere hundert Genossen die Stadtteilgruppe durchlaufen haben. Um die augenblickliche Situation der Gruppe zu verstehen, ist es notwendig, kurz einiges zur geschichtlichen Entwicklung zu sagen:
Die Arbeit begann 1970 als Spätgeburt der Studentenbewegung – die Aufgabe der damals gebildeten Basisgruppe sollte es sein, im Stadtteil in Neukölln „Gegenöffentlichkeit“ herzustellen, rote Stützpunkte zu errichten, die Mieter zu mobilisieren und organisieren.

Die konkrete Arbeit beinhaltete die Errichtung eines Ladens als Kontaktstelle zur Bevölkerung, Diskussionsrunden, Kampagnen, Herausgabe einer Stadtteilzeitung. Wegen mangelnder positiver Resonanz der Bevölkerung schlief die Arbeit nach mehreren Monaten ein – die Ziele „Gegenöffentlichkeit“, Organisierung der Basis hatten sich als zu hochgesteckt erwiesen. Als nächstes schloss sich die Gruppe einer „proletarischen Partei“ an (der Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei)[1], sah ihre Funktion nunmehr in der Unterstützung von Betriebsarbeit und Verkauf der parteieigenen Zeitung im Stadtteil. Als die Gruppe sich mit dem Parteiansatz nicht mehr identifizieren konnte und die „marxistisch“-leninistische Linie verliess, brach sie mit der Partei und arbeitete fortan weiter als autonome Stadtteilgruppe.

Die beabsichtigte Betriebsarbeit wurde nicht mehr in Angriff genommen, da inzwischen ein Grossteil der Arbeiter nicht mehr in der Gruppe war, weitergeführt wurde ausschliesslich die Mieterarbeit: Hausbesuche, individuelle Gespräche mit Mietern über ihre Wohnungsprobleme, Rechtsbeistand, Haus- und Kneipenversammlungen, Kämpfe gegen Missstände in Wohnungen und zu hohe Mieten, dann eine grossangelegte Kampagne gegen die 15% ige Mieterhöhung 1972/73 mit Informationsständen, Versammlungen, Aktionen gegen Hausbesitzer, Demonstration. Ziele dieser Arbeit waren die Selbstorganisierung der Mieter in Häusern und Strassen, dann, als dieses Vorhaben sich als zu unrealistisch erwies, Versuch im Stadtteil „kleine Feuerchen des Widerstands“ zu entfachen“, kollektive Erfahrungen zu vermitteln, Bewusstwerdungsprozesse einzuleiten. Die Mietkampagne erwies sich jedoch, gemessen an unseren Erwartungen, als Schlag ins Wasser, trotz vereinzelten Widerstandes kamen wir zu der Überzeugung, dass die Kampagne an den Bedürfnissen und dem Bewusstsein der Mieter vorbeigegangen sei.

Ein anderer Grund wurde darin gesehen, dass die Mieter viel zu ohnmächtig und hilflos sind aufgrund ihrer Isolation und gegenseitigen Abgeschlossenheit, ihrer fehlenden Solidarität. Das versuchten wir aufzuheben durch einerseits militante Aktionen, die den Mietern zeigen sollten, dass sich doch jemand wehrt, andererseits durch ein Stadtteilfest, das die Kommunikation unter den Mietern und zu uns als Stadtteilgruppe verbessern sollte, um auf diesen Kontakten eine längerfristige Arbeit aufzubauen. Das Problem der Organisierung der Mieter stellte sich zu diesem Zeitpunkt für uns nicht mehr.

Trotz „einigem“ Erfolg und auch des Spaßes, den uns unsere Arbeit gebracht hatte, wurde ein paar Monate nach diesen Aktionen im letzten Herbst die Mieterarbeit eingestellt. Die Gruppe sah sich mit der Tatsache konfrontiert, keine Perspektive mehr für die weitere Arbeit zu besitzen. Die Vorstellungen in der Gruppe waren zu uneinheitlich, wenn überhaupt Vorstellungen vorhanden waren, als dass man sich auf eine weitere Arbeit hätte einigen können. Einige Genossen wanderten in ML-Zirkel, ein Teil begann Jugendarbeit mit einer Lehrlingsgruppe, der Rest verblieb in der Mietergruppe.

Man hatte zwar jahrelang nach den verschiedensten Ansätzen gearbeitet, deren Realisierung jedoch den eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden konnte, was beim Grossteil der Gruppe ziemliche Frustration hervorrief.
Es folgte nun eine mehr oder minder intensive Reflektion der geleisteten Arbeit, ihrer Fehler, falschen Ansätze und auch Erfolge. Einige Genossen glaubten den Fehler darin zu erkennen, dass sich die Gruppe stets als Initiativgruppe, als Avantgarde gefühlt hatte, die die Massen zum Kampf bewegen wollte, was notwendig ein viel zu hoher idealistischer, darum falscher Ansatz gewesen sei. Andere verwiesen mehr auf fehlende bzw. fehlerhafte Untersuchungsarbeit, wieder andere auf objektive Hemmnisse für eine Stadtteilarbeit in Neukölln: noch relativ erträgliche Wohnsituation (weisser Kreis, keine Ausländerprobleme usw.), Zersplitterung und Inhomogenität der Bevölkerung. Die Gruppe als ganze war jedoch nicht in der Lage, aus der geleisteten Arbeit Schluesse für die zukünftige zu ziehen aufgrund mangelnder theoretischen Qualifikation. Neben einer umfangreichen Untersuchungsarbeit über den Stadtteil Neukölln (die jedoch in den Anfängen stecken blieb) wurde also mit verstärkter theoretischer Arbeit begonnen: Theorie des Reproduktionsbereiches, (Untersuchung der Widersprüche, der Unterversorgung im Stadtteil), Bestimmung und Untersuchung der Bewusstseinsformen, strategische Ansätze im Stadtteil usw. Unmittelbare Erfolge zeitigt diese Arbeit noch nicht, die Mietergruppe ist nach wie vor nicht in der Lage, eine konkrete Praxis anzugehen.

Aus dieser Situation heraus ist erklärlich, dass zumindest die Mietergruppe stark an Kommunikation mit anderen Gruppen interessiert ist, um aus deren Theorie und Praxis gegebenenfalls für die eigene Arbeit lernen zu können.[2]

  1. Welche Irrwege eine „Linke“ auch in vergangenen Jahrzehnten gegangen ist, zeigt dieses Beispiel. Bei der „Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“(!!) handelte es sich um eine Abspaltung der Splittergruppe KPD/ML. Die von ihr maßgeblich bestimmte Bethanien -Kampagne wird auch heute noch von einzelnen Theoretikern als Vorbild für die Organisation einer erfolgreichen Initiative angepriesen.
  2. Die Gruppe hat sich nach Erscheinen dieses Textes wohl aufgelöst. In den nachfolgenden Ausgaben des „Info BUG“ gab es keine Berichte mehr.

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